Hochmut kommt vor dem Fall

Diesen Spruch habe ich immer wieder mal von meinen Eltern oder auch Großeltern gehört. Aber eigentlich habe ich ihn nie verstanden. Bis zu einer ganz bestimmten Reitstunde...

Leni und Anna hatten ihre zweite Reitstunde bei mir. Am Tag zuvor haben sie mit den Schulpferden Grace und Jacky das Reiten am Halsring geübt, das auch ganz großartig klappte. Heute sollte es für die Vier ins Gelände gehen. Das Gelände ist ein eingezäunter Bereich, der zum Üben perfekt ist: Es gibt Hänge, Hügel, kleine Naturhindernisse, eine Galoppbahn, eine Holzwippe und viele andere Sachen zum Erkunden.

 

Leni ist 14 Jahre alt und reitet schon seit mehreren Jahren. Sie ist mutig und probiert gerne mal etwas aus. Ihre Mutter unterstützt sie beim Reiten, gibt auch gerne mal Anweisungen vom Rand aus. :-)

Anna ist 13 und auch schon eine sehr geübte Reiterin. Sie ist eher der vorsichtigere Typ. Stets bedacht, dass es dem Pferd gut geht. Ihre Hilfen sind immer sehr liebevoll. Das Pferd Grace, das sie reitet, kann sich immer über viel Lob und Streicheleinheiten freuen.

 

Wann reiten wir Trab?

 

Ich zeige den beiden Reiterpaaren das Gelände im Detail. Im Schritt erkunden die Vier die Wege und Unebenheiten sehr neugierig und recht gelassen. Die Wippe wird ausgetestet und für gut befunden. Doch Leni und Anna werden langsam ungeduldig und würden so gerne mal antraben. Ich lasse sie. Schnell stellen sie fest, dass ihre Pferde sehr frisch und fröhlich unterwegs sind. Jacky, das Pony, das Leni reitet, pustet sich richtig auf -  es kann es gar nicht erwarten, noch etwas schneller zu werden.

 

Ich sage den beiden jungen Reiterinnen, dass sie heute auf jeden Fall noch galoppieren können, doch erst sollen sie den beiden Pferden zeigen, dass man das Gelände auch in einem lockeren und gelassenen Trab erkunden kann. Ich gebe den beiden Ideen an die Hand, um genau das bei den Pferden zu erreichen. Die beiden Mütter von Leni und Anna sitzen auf einem Baumstamm und beobachten stolz ihre Töchter.

 

Wann reiten wir Galopp?

 

Anna und die schwarze Stute Grace finden recht schnell ihren Takt und starten ihre ersten Galoppversuche. Das Pony Jacky ist dagegen noch nicht bereit für die nächste Gangart. Er zockelt recht schnell im Trab, schlägt mit dem Kopf und ist in der Aufmerksamkeit überall - nur sehr wenig bei Leni. Leni galoppiert trotzdem an. Jacky schlägt gleich mal einen Haken. Leni kann den gerade noch sitzen. "Leni, bitte, erst wenn ihr zwei locker flockig im Schritt und Trab durch das Gelände reiten könnt und du sanft das Tempo in beide Richtungen regulieren kannst, dann könnt ihr euch im Galopp probieren, vorher bitte nicht", sage ich zu ihr. "Bleib gerne hier in Sichtweite, dann üben wir das zusammen!" Leni pariert durch. Geht ganz entspannt mit Jacky ein paar Runden Schritt. Sie trabt an und auch das sieht ganz gut aus. Schritt, Trab im Wechsel. Während ich mich kurz auf Anna und Grace konzentriere, schleicht sich Leni mit ihrem Pony hinter die Bäume, in Richtung Galoppbahn.

 

Es vergehen keine zwei Minuten, da kommt Leni zu Fuß mit dem Pony an der Hand aus dem Gebüsch. "Leni, was ist passiert?", frage ich sie besorgt. "Ich wollte das Angaloppieren probieren. Da hat Jacky einfach den Kopf runter genommen und mich abgesetzt..." Ich schau an ihr herunter, sehe eine kleine Schürfwunde an ihrem Arm: "Wie geht´s dir? Tut dir irgendetwas weh?" Leni schaut auf den Boden "Nein, alles gut! Es tut mir auch voll leid, dass ich angaloppiert bin. Ich sollte es ja noch gar nicht, aber ich wollte es einfach ausprobieren."

 

Grenzen erleben

 

Zum Glück ist Leni wirklich nichts Schlimmeres passiert. Sie klopft sich die Erde von der Kleidung, führt Jacky an einen Baumstamm und steigt wieder auf. "Ich möchte noch ein paar Runden im Schritt gehen und dann bringe ich Jacky wieder aufs Paddock." Die Mutter kommt zu mir und sagt: "Ja, ja, da wird sie gleich eine Lehre daraus ziehen!"

 

Ja, das wird sie bestimmt. Und in diesem Moment kommt mir der Spruch meiner Eltern wieder in den Sinn "Hochmut kommt vor dem Fall" - heute habe ich ihn das erste Mal verstanden. Aber ganz ehrlich, als ich so alt war wie Leni, habe ich es genau so gemacht. Ich bin mutig gewesen, habe einfach Dinge ausprobiert, auch in der Konsequenz, dass ich dann mal herunter gefallen bin. Wie soll ich mich sonst auch weiterentwickeln, wenn ich nie meine Grenzen austeste? Das tun Pferde übrigens auch - jeden Tag - untereinander und auch mit dem Menschen.

 

Heute bin ich als Reitlehrerin sehr darauf bedacht, dass meine Schüler und Schülerinnen die ganze Stunde über im Sattel sitzen bleiben. Insofern versuche ich Grenzen gemeinsam zu erarbeiten und erlebbar zu machen. Grenzen, die für Pferd und Reiter lehrreich, spannend und stressfrei sind - so dass keiner von beiden zu Schaden kommt.

 

Lenis kleine Schürfwunde ist übrigens wieder gut verheilt. Jacky mag sie weiterhin reiten und ist mit ihr auch wieder galoppiert. Ganz entspannt und glücklich...